Essays

Der Krieg im Kopf der Puppe

Anke Meyer

Anke Meyer, langjährige wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Forum für Figurentheater, spürt in ihrem Essay die vielschichtigen Facetten des Politischen im Figurentheater auf.



 

"... da mache ich keinen Unterschied zwischen ästhetischem und politischem Engagement" (Marcel Cremer im April 2008).

Die Welt erlebt mit der Reaktorhavarie in Fukushima genau das, was seit Jahrzehnten von Umweltaktivisten und Wissenschaftlern verschiedenster Couleur vorausgesagt und von der herrschenden Politik fast aller Länder der Erde verharmlost wurde als "Restrisiko" mit gegen Null gehender Wahrscheinlichkeit: eine in Zeitlupe ablaufende, radioaktive Verseuchung bisher noch unbekannten Ausmaßes und hilflose, überforderte Manager, Ingenieure und Politiker. Zeitgleich beginnt in Lybien per UN-Resolution ein weiterer umstrittener Krieg, der inmitten einer undurchsichtigen Gemengelage aus widersprüchlichen politisch-wirtschaftlichen Interessen Menschen tötet um Menschen zu schützen, so die erklärte Absicht.

Nicht ohne Grund läuft also zur Zeit auf vielen Ebenen die Diskussion um die Repolitisierung des Theaters, nach einer (behaupteten) Fokussierung des Ästhetischen. Gemeinsam ist allen Debatten, dass immer wieder nach neuen, adäquaten künstlerischen Formen der politischen Artikulation gesucht wird, häufig transdisziplinär. Ein weites Feld -- ich möchte hier jedoch nur zwei schmale Ackerfurchen ziehen mit Bemerkungen zu einigen Straßenaktionen und Gedanken zum politischen Potential der Darstellung im Figurentheater.

Erste Furche: Auf der Straße
Parallel zur den aktuellen Debatten ist eine Veränderung des politischen Engagements zu beobachten: Der Protest auf der Straße findet auch dann statt, wenn wahrscheinlich ist, dass Regierungen und Lobbyisten ihr Anliegen durchsetzen werden, dass sie Tatsachen geschaffen haben, die den Widerstand im konkreten Fall zunächst scheitern lassen können. Aktuelle Beispiele in Deutschland waren die regelmäßigen Aktionen gegen die Castortransporte in die sogenannten "Zwischenlager" für Atommüll und die überaus energischen Proteste gegen den Bau des unterirdischen Bahnhofs in Stuttgart, als noch niemand mit so einschneidenden politischen Veränderungen wie in Baden-Württemberg oder in der Atompolitik rechnen konnte. Dennoch: Diese Proteste, die sich nicht nur gegen die Projekte selbst richten, sondern auch gegen die Art und Weise, wie sie von Politik und beteiligten Unter-nehmen lanciert und selbstherrlich durchgesetzt werden, haben bzw. hätten selbst in lautem und bewusst hingenommenem Scheitern einen Sinn: Sie erinnern die Mandatsträger an einen der wichtigsten Grundsätze der Demokratie: "Die Herrscher sind die Beherrschten, die Beherrschten sind Herrscher" will sagen: das Volk ist der Souverän. Und gerade in unserer von von Wirtschaftsinteressen bestimmten Massendemokratie muss, so der Kulturwissenschaftler Claus Leggewie, immer wieder in Erinnerung gerufen werden, wer wem die Macht geliehen hat.

Der Gründer des "Bread and Puppet Theatre" in Vermont (USA) Peter Schuman, eine Ikone des sich als politisch verstehenden Figurentheaters und Regisseur vieler großer politischer Figurenparaden und Inszenierungen, formulierte es so: "...die Puppen sind die unerlässlichen Fragezeichen, welche dem gewaltigen Weltmarkt auf den Kopf hauen". Ob dieser sich darum kümmert oder nicht, ist zunächst einmal unerheblich. Es geht in den Paraden und Demonstrationen mit Puppen oder Masken -- als politische Performance eines Theaters oder im Rahmen von politischen Aktionen -- um das Herstellen von widerständiger Präsenz. Und es ist doch noch mehr. Denn der ästhetische Mehrwert des Theatralen rechnet sich nicht in Heller und Pfennig.
Das tut er auch dann nicht, wenn der freischaffende Puppenspieler Florian Feisel sein Krokodil vor die Rathäuser schickt, um gegen den Abbau kultureller Mittel zu demonstrieren -- ein großes, genähtes Monstrum mit riesigem Maul, aus dem die Hand des Spielers hängt, mehr ist von ihm nicht zu sehen. Verletzlich wirkt diese kleine Menschenhand des offenbar Gefressenen -- und sie ist es, die ein Schild hält: "Gegen Gewalt!" Das dicke Krokodil selbst hält den Spruch "Für mehr Fleisch!" in seiner Tatze. Über die Präsenz in eigener Sache hinaus sind Feisels Aktionen in seiner eigenen Einschätzung "visuelle Verschwendung ohne Verkaufsauftrag" und damit absurde, mehrdeutige und für das zufällige Publikum höchst vergnügliche Demonstrationen gegen die merkantile Verödung des öffentlichen Raumes.
Unter dem Motto "Let's get loud" ging das internationale Bochumer Festival FIDENA im September 2010 mit den eher leisen Projekten "Unbezahlbar" und "Reprendre son souffle" auf die Straße. Mit der Einladung des Papiertheaters Nürnberg, das mitten in der Innenstadt und direkt vor der Sparkasse die Passanten einlud, auf rund 200 weiß verpackte Teller zu schreiben, was für sie persönlich unbezahlbar ist, wurde ein deutlicher Akzent gegen die Ökonomisierung aller Lebensbereiche gesetzt. Die Aktion -- deren an ethischen und kulturellen Werten orientierten, manchmal etwas gutmenschelnden, aber sehr engagierten Eingangsreden im Beitrag eines ebenfalls eingeladenen Wohnungslosen der im Wortsinn finanzielle und zugleich sozialpolitische Aspekt von "unbezahlbar" gegenüberstand -- zog in ihrer klugen Mischung aus ästhetischer Installation, sehr zarter musikalischer Improvisation, Interaktion und Message viele Leute nachhaltig in Bann. Sie kamen und blieben und redeten, machten aus dem Einkaufsplatz einen öffentlichen Raum der Begegnung und Debatten und trotzten dem strömenden Dauerregen, der nach und nach aus der fast 50 Meter langen, mit weißem Papier gedeckten Tafel einen patschnassen, durchgeweichten Schmuddeltisch machte. Unbezahlbar!
Unter dem Regen litten auch die Spieler und Puppen des La où théâtre aus Rennes, doch auch hier war die Anziehungskraft der theatralen Situation stärker als meteorologische Unannehmlichkeiten, obwohl "Reprendre son souffle" auf eher unspektakuläre Weise den Straßenraum besetzte. Die hyperrealistische Puppe, eine kleine alte Frau, wurde von Julika Mayer anrührend zart und vorsichtig geführt, und doch oder gerade deswegen war man sich jederzeit ihrer Gefährdung durch den fließenden Verkehr, ihres Ausgesetztseins in einer zu schnellen Welt bewusst. In dieser Inszenierung wird das Führen und Animieren der Puppe gleichzeitig zu einem Akt des mitfühlenden Begleitens und des Verlangsamens -- befremdend auf einem Boulevard, der ausschließlich für den schnellen und profitablen Warenumsatz bebaut wurde. Noch befremdender wird es, als die Spielerin die Puppe auf die Straße legt, sie eine Zeit dort liegen lässt und ruhig zur Seite geht. Keiner rührt sich rundum, jeder sieht eine alte Frau auf der Straße liegen und hält für einen Moment die Luft an, während die Protagonisten verschnaufen. Unerhört, mitten in der Aktivitätszone des Einkaufswahns.

2. Furche: Im Bild
Der politische Aspekt von "Reprendre son souffle" liegt also eher in der Art und Weise der Darstellung als in einer explizit politischen Thematik oder angestrebten Botschaft. Damit ist eine Eigenschaft angesprochen, die man vielleicht als spezifisch für das Genre bezeichnen könnte: Auch fernab der für die Beschreibung von Machtverhältnissen viel strapazierten Marionettenmetapher ist dem Figurentheater das Politische sozusagen immanent. Die offene Animation einer Puppe oder eines Objektes zeigt immer wieder, wie ein für wahr gehaltenes Bild produziert wird, wie eine Personage entsteht und manipuliert wird, wie "Leute gemacht" werden -- eine hochpolitische Sache in Zeiten von 24 Stunden redigierter Bildnachrichten in TV und Internet.
Zum anderen stellt die absurde Umwertung von Dingen, wie in den Inszenierungen von Gyula Molnàr oder Astrid Griesbach, politische "Wahrheiten" schon durch die Assoziationsmöglichkeiten der neuen Kontexte in Frage, lässt Offensichtliches in den Abgrund des Zweifels stürzen. Wenn in Griesbachs "Tell" am Puppentheater Gera aus einem Plüschbären ("Das jetzt ist nur ein Zeichen!") der alte Melchthal wird und aus Schweizer Fonduegabeln die Folterwerkzeuge für Melchthals Blendung, dann produziert das nach einem erschreckten Auflachen ganze Kettenreaktionen der Verunsicherung über Kinderspielzeug, häusliche Idylle, das Tabu politisch motivierter Gewalt gegen Kinder, Zeichen im Theater, Folterung als Zeichen für Sympathisanten ....
Oder anders herum, es wird Unmögliches behauptet -- und stellt sich in gewisser Weise als wahr heraus. Das kann auf komisch-subversive Weise geschehen, wenn zum Beispiel eine Puppe, deren Kopf aus eingeweichten Blättern eines Kriegstagebuch kaschiert wurde, jeden Text in die immer hysterischer werdende Beschreibung einer grausamen Angriffsszene münden lässt und so die ihr via Papiermaché eingeschriebene Geschichte als lebendig behauptet. Und in der Tat, die Vorgänge des ersten Weltkrieges, dieser riesigen, blutigen Materialschlacht des 20.Jahrhunderts, bestimmen ja nicht unwesentlich die europäische Geschichte bis heute. Wie hier in "KasperlsWurzeln", der vordergründig ziemlich albernen Geschichte eines wiederbelebten, aber unvollständigen alten Kasperensembles, legen der ungarisch-italienische Puppen- und Objekttheaterkünstler Gyula Molnàr und die Regisseurin Francesca Bettini, beide Meister im Ausspielen der komplizierten Beziehungen zwischen Mensch und Ding, immer wieder Spuren vom scheinbaren Herumblödeln zu sehr konkreten politischen Ereignissen und deren Einfluss auf unser Denken und Handeln. In bester Kaspertradition und mit geradezu philosophischem Humor.

3. Furche: In der Erzählung
Und jetzt ziehe ich wider Erwarten noch eine dritte, ganz kurze Furche: Natürlich verhandelt auch das Figurentheater aktuelle gesellschaftspolitische Fragestellungen, Konflikte oder Schieflagen auf der inhaltlichen, erzählenden Ebene. Von Kinderstücken über Armut und Ausgrenzung (Ensemble Materialtheater und Théâtre Octobre, "Ernesto Hase hat ein Loch in der Tasche") über die Auseinandersetzung mit der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof (Antje Töpfer/Iris Meinhardt, "...Glückes Unterpfand" und Ulrike Quade, "The Wall") oder eine Grotesken-Reihe zur Arbeitswelt (TJG Dresden/Markus Joss, "Zimmermann"-Trilogie) bis hin zur hochkomplexen Verhandlung des geistigen und materiellen Erbes kolonialer europäisch-afrikanischer Vergangenheit als Solo (Yvette Cotzee, "Keine Palmen. Keine Löwen. Keine Affen) bzw. einem internationalen Ensemble (Oberhoff/Mousseka/Gütesiegel Kultur/Fanfare Masolo, "King Kongo: Eine skanadlöse postkoloniale Revue") -- die Puppe ist politisch! Auch wenn sie manchmal gar keine Puppe ist, sondern ein Lautsprecher. Oder unsichtbar.
Aber das wäre ein anderes Thema.


Leicht gekürzte und aktualisierte Version des in figura (Zeitschrift für Puppen- und Figurentheater der unima suisse) No. 1/2011 erschienenen Artikels der Autorin. Mit freundlichem Dank an die figura-Redaktion.