Die aktuelle Kritik

Schauspielhaus Bochum: „Die Verwandlung“

von Max Florian Kühlem

Kafka ohne Käfer auf der Kammerbühne - aber dafür mit Figurenspiel

 

Depressives Ungeziefer

Einen Käfer gibt es in dieser Inszenierung genauso wenig zu sehen wie auf dem Titel der ersten Buchveröffentlichung von Kafkas Erzählung "Die Verwandlung" 1915. Der Autor selbst hat sich damals gegen diese Visualisierung ausgesprochen. Regisseur Jan-Christoph Gockel versucht in den Kammerspielen des Bochumer Schauspielhauses mit einer ganz anderen Bildsprache, das unbestimmte Unbehagen, das Kafkas Leser überkommt, für die Bühne umzuwandeln. Dabei helfen ihm auch Puppen des Berliner Schauspielers und Figurenspielers Michael Pietsch.

Dass man das "ungeheure Ungeziefer", in das Protagonist Gregor Samsa sich eines Morgens verwandelt sieht, als Metapher betrachten sollte, damit haben sich bereits viele Schülergenerationen schwergetan. Zu stark ist Bild des überdimensionierten Käfers, das der Autor an vielen Stellen der Erzählung ausgestaltet. Bei Jan-Christoph Gockel in den Kammerspielen ist Gregor Samsa ein plötzlich aus dem Leben Gefallener. Vielleicht ein Burn-out-Kranker, vielleicht Opfer familiärer Gewalt oder -Missbrauchs, ziemlich wahrscheinlich ein depressiver Mensch, der keine Kraft mehr hat, morgens aus dem Bett zu steigen.

Nils Kreutinger spielt ihn verwundbar, längst verwundet, wenn der Vater den Apfel wirft, Symbol des Lebens, der ihm im Fleisch stecken bleibt und ihn schließlich tötet. Er spielt ihn verängstigt, schaudernd über die Schrecken der eigenen Existenz: Das Zimmer, in dem er lebt in der Wohnung mit Familienanschluss werden ihm zum Schauerkabinett auf vier Ebenen.

Für einige Ebenen ist er zu klein, für andere viel zu groß. In seinem Bett erwacht er erst als filigrane gearbeitete Marionette, als zartes, verletzliches Wesen, deren Existenz an dünnen Fäden hängt. Dann erwacht er im selben, jetzt natürlich zu kleinen Bett als Mensch. Am Frühstückstisch ist seine Familie zu Puppen geschrumpft. Bis auf Kostümdetails gleichen sie den Schauspielern aus dem Bochumer Ensemble, das die Puppen recht ordentlich führt: Mit den einen Hand halten sie sie über einen Stab am Kopf, mit der anderen Hand führen sie zum Beispiel Armbewegungen aus. Nils Kreutingers Samsa tolpatscht als richtiger Menschen dazwischen und „beschädigt“ aus Versehen den Prokuristen - er stößt ihn einfach vom Bühnenelement.

Die Puppen von Michael Pietsch sind andere Repräsentationen von Kafkas Figuren, legen tiefer liegende psychologische Schichten frei. Sie symbolisieren das stumme Entsetzen der Familie über den Totalausfall des Sohnes. Aber auch surreale oder albtraumhafte Szenen, wenn es zum Beispiel im Unterboden der Drehbühne zu einer Art gewaltsamen Übergriff oder sogar einer angedeuteten Vergewaltigung Gregor Samsas kommt.

Nicht immer stimmt in dieser Neubestimmung der Wortschöpfung „kafkaesk“, mit der man die Texte des Autors so gern in aller Unschärfe bezeichnet, allerdings die Balance. Aufgesetzt wirken etwa Szenen, in denen Figurenbauer Michael Pietsch völlig freien Lauf bekommt und in einer Travestie-Nummer ziemlich platt auf die Meta-Ebene der Kafka-Interpretation wechseln darf.

 

Premiere: 29. Oktober 2016

Regie: Jan-Christoph Gockel
Bühne: Julia Kurzweg
Kostüme: Amit Epstein
Musik: Matthias Grübel
Puppenenbau und -spiel: Michael Pietsch
Licht: Denny Klein
Dramaturgie: Alexander Leiffheidt

Gregor Samsa: Nils Kreutinger
Vater: Uwe Zerwer
Mutter: Katharina Linder
Grete: Luana Velis
Prokurist / Bedienerin: Michael Pietsch

Foto: Diana Küster

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