Die aktuelle Kritik

Das Helmi: „Pinocchio“

Von Reinhard Wengierek

Das Berliner Figurentheater zeigt eine sehr freie Interpretation von Carlo Collodis weltberühmten Roman.

Klein gedruckte Ansage: „Nicht geeignet für Kinder und Jugendliche.“ – Oho, da hat das Berliner Figurentheater „Das Helmi“ wohl Verwegenes vor mit seiner Adaption der abenteuerlichen Mär vom Burschen Pinocchio, die sich der italienische Autor Carlo Collodi um 1881 ausdachte zur Belustigung und Belehrung der lieben Kleinen. Das Buch von der sprechenden Holzpuppe, die sein „Vater“ Geppetto aus einem Kiefernscheit schnitzte, wurde ein Welterfolg, massenhaft adaptiert (allein 27 Verfilmungen zwischen 1911 und 2015) und theoretisch analysiert (Bezüge zur Jesus-Legende bis hin zu Tolstoi oder italienischen Modernen wie Manganelli, Tabucchi, Eco). Diese drei übrigens plädierten dafür, Pinocchios Tour de Force durch eine gefährliche Fantasy-Welt nicht als Kinderbuch zu lesen, sondern als poetisches Gleichnis gegenwärtiger Menschen- und Weltzustände. – Deshalb vielleicht Helmis „Pinocchio“ nur für Erwachsene.

Kindischer Mummenschanz

Tatsächlich, das aus der Schnitzwerkstatt getürmte Bengelchen erlebt viel Schlimmes: Hunger, drohenden Feuertod, Beinahe-Hinrichtung, Seenot, Lüge, Diebstahl, Gefängnis, Flucht, Kampf mit einem Riesenhai – und immer wieder Angst, Schrecken, Schmerz und Not. Ein wildes Kerlchen, vom Kampf ums Überleben gepeitscht – bis er schließlich, bei Helmis kaum belichtet, ein ehrlicher, fleißiger guter Junge wird aus Fleisch und Blut. Sozusagen die Auferstehung aus dem Holz, die Menschwerdung nach schweren Prüfungen.

Das alles wäre eigentlich zumutbar zumindest für Jugendliche, die sich längst mit viel härteren Sachen vergnügen im Netz und im TV. Wäre da nicht der PR-Text, der verkündet, man müsse sich Pinocchio als „Bruder aller Unterprivilegierten (Stricher, Sexarbeiter, Geflüchtete, Illegale) in einem italienischen neorealistischen Film – Pasolini! ‑ vorstellen, der heute in Berlin spielt“. P. als ein Junkie „ohne Ausbildung, Moral, Status, ohne Firewall gegen Arschlöcher, der bei der Drogenfahndung im Mauerpark erwischt wird…“

Auch das ginge an für Jugendliche (freilich nicht für Kinder). Das Jugendensemble des Deutschen Theaters Berlin beispielsweise hat es soeben vorgeführt mit der Inszenierung des drastischen Jugendbuchs „Tigermilch“ von Stefanie de Velasco. – Nicht das Thema ist hier bei Helmis das Problem, sondern dessen Umsetzung. Die ausgewählten Szenen aus dem dicken Kinderbuch-Klassiker sind derart dekonstruiert und nur in vagen Andeutungen skizziert, dass keiner sie ohne Quellenstudium versteht. Helmis pantomimisch verpuppte, eiernde „Pinocchio“-Umkreisung ignoriert Handlung; kriminelles Großstadtmilieu ohnehin – und tröstet mit ein paar hübschen Liedchen. Übrig bleibt ein Märchenspuk, der das Pausbäckig-Neckische noch unterstreicht durch eine aufwändige Paraphrase auf die prall gefüllte Augsburger Puppenkiste. Von existenziellem Überlebensdrama keine Spur.

Dafür hinreißende, meist aus Schaumstoff raffiniert geborene, höchst kunstvolle Puppenfiguren, dem Helmi-Markenzeichen: Fuchs, Katze, Taube, Grille, die fleißigen Bienen, der Feuerfresser, die Frau mit den blauen Haaren (mit leider fataler Anspielung aufs Nuttige) und das alberne fette Weib aus des Tischlers Werkstatt – alle diese köstlich gebauten Figuren betören für sich genommen, erzählen aber nichts von Vorgängen. Auch die Hauptfigur mit Kürbiskopf, traurigen Augen und spitzer Nase nicht. So wirkt alles zusammen (mit Ayam Am, Katharina Meves, Emir Tebatebai, Felix Loycke und Florian Loycke als künstlerischem Leiter) wie ein Mummenschanz im Zauberwald; irgendwie kindlich, aber ins Nirwana performt.

 

Vor gut einem Jahr gastierte das Helmi gleichfalls im Prenzlauer Berg-Offschuppen „Ballhaus Ost“ mit der Seltsamkeits-Show „Fatrasien. Ein Unsinnswelttheater“. Da war die Truppe ganz bei sich, mit dieser philosophisch getönten Melange aus Märchen, kicherndem Nonsens, vagem Hintersinn und absurder Spielerei; prallvoll mit optischen Sensationen und ohne Handlung. Wie Kunst und Leben, wie Wahn und Wirklichkeit zart oder drastisch sich vernebeln, das wird assoziativ angedeutet, hingehaucht. Eine Großartigkeit, die aus (scheinbar?) schamlos naivem Dilettantismus erwuchs. Alles taumelte ‑ wie lax aus dem Ärmel geschüttelt ‑ ins Verstiegene, gar für überraschende Momente ins Bedeutende. Da passten Idee und Form.

 

Diesmal passt nichts – verstiegener Anspruch, verwuselte Form. Doch Fantasy-Stories erzählen etwas, haben Handlung, brauchen stringente Dramaturgie sowie starke Bilder. Herrliche Puppenbau-Fantasie allein genügt nicht. „Pinocchio“ hat uns hier sehr wenig zu sagen. Und wenig wirklich zu spielen.

 

Premiere: 06.05.2018

Wieder am 25., 26. Mai 2018
Das Helmi im Ballhaus Ost
Pappelallee 15
10437 Berlin

Kartentelefon: 030-44049250

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