Die aktuelle Kritik

Elektrisches Menschenmarionettentheater: "...denn sie wissen nicht, was sie tun"

von Jessica Hölzl

In Leipzig wird Kleists Frage gestellt: Wer ist der bessere Spieler, Mensch oder Puppe?

 

"Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, was ich tun soll."
"Du darfst nicht drüber nachdenken."

 

Sie wissen es wirklich nicht.

Eine Gliederpuppe liegt auf dem Teppich, ihr Gesicht zum Boden gewandt, reglos. Das Licht geht aus und ihre Stimme ertönt: "Ich lag auf dem Boden. Ich lag da einfach. Und war am Ende." Ein Kameraschwenk auf den Spieler, der unbewegt mit einem Knopf im Ohr auf Weisung wartet. Mechanisch dreht er den Kopf, blickt fragend ins Publikum und sinniert: "Dieser Text von Kleist, der ist schwer zu verstehen."

Regisseur Stephan Seidel hat ein Walkie-Talkie und gibt Anweisungen, er sagt Text ein, gibt Bewegung, Auf- und Abgänge sowie Musik an – und er arbeitet live.  Inspiriert durch Stimmung, Licht, Material und eine filmische Vorlage erfindet die Regiestimme jeden Moment als Resultat des vorherigen Augenblicks. Kleists vom 12. bis 15. Dezember 1810 in den Berliner Abendblättern erschienene Erzählung "Über das Marionettentheater" gilt nicht nur als bedeutender Theorietext für Tanz- und Theaterwissenschaften, sondern dient der Arbeit des Teams als programmatische Inspiration. Als menschliche Puppen reagieren die Menschenmarionetten auf Funk, statt durch Fäden gesteuert zu werden, und setzen das Gehörte selbständig physisch um. Das gelingt sehr unterschiedlich – ist es der Puppe ja durchaus möglich, sich den Vorgaben der Regie zu verweigern bzw. die Anweisung eigenmächtig gestalterisch umzusetzen. So stellt sich immer wieder die Kleistsche Frage: Wer ist der bessere Spieler, Mensch oder Puppe?

Das Publikum verfolgt das Geschehen gespannt auf gleich zwei visuellen Formaten: Das Bühnengeschehen wird gefilmt und zeitgleich auf eine Leinwand auf der Bühne projiziert, sodass neben den eigentlichen Szenen zusätzlich Filmsequenzen entstehen. Kameraführung und Zoom, Fokus und Auswahl des Auschnitts erzeugen dabei immer wieder ganz anderes perspektivierte Bilder, die sich in ihrer Wirkung zwischenzeitlich massiv vom "realen" Bühnengeschehen unterscheiden. Wer handelt? Wer spricht? Wer zeigt hier wem was?

Nach bisher drei Abenden ähnlichen Formats, die sich mit Anleihen aus "Alexis Sorbas", "Blade Runner" und "Billy the Kid" gestalteten, stand Nicholas Rays "Rebel without a cause", bis heute gefeierter Coming-of-Age Film der 50er Jahre mit James Dean in der Hauptrolle, am 07.04.2017 Motiv für die Live-Inszenierung im Leipziger 'Noch besser leben'.

Vier junge Menschen zwischen Gewalt, Sex und Familienproblemen, dem Bedürfnis nach Anerkennung und Freundschaft sowie dem unentrinnbaren Druck, sich irgendwie zu behaupten, steuern ziellos durch kleine Szenen des Alltags. Partys spielen eine Rolle, Flirts und Reden über die Eltern. Auf der Suche nach Wahrhaftigkeit verstricken sie sich in Floskeln und Platitüden, stellen eindringliche Fragen und belächeln im nächsten Moment spöttisch die eigenen Pathosreminiszenzen.

"Was magst du? - Menschen. - Und was magst du nicht? - Menschen. --- Was magst du denn? - Die Natur. - Und was magst du nicht? - Die Natur." Achso.

Sie wissen es wirklich nicht, diese Figuren, sie haben keine Ahnung, irgendeine obskure Kraft treibt sie an, von der sie nichts genaueres wissen. Das Planetarium taucht kurz als Ausflugsziel auf und ruft Kenner_innen entsprechende Szenen der Filmvorlage in Erinnerung, wird zwischen den wechselnden Fetzenszenen ebenso schnell wieder fallen gelassen. Methode und Inhalt überlagern sich an dieser Schnittstelle des Nicht-Wissens entsprechend dem Titel des Ganzen. So wird die Stimme im Ohr des Spielers zum treibenden Handlungsmovens der Figuren. Als Stereotype steuern sie orientierungslos in sich scheinbar seit den 50er Jahren bis Anfang des 21. Jahrhunderts nahezu unverändert wiederholenden Selbstfindungsprozessen umher. Nur wenn das Licht dunkler und die Musik laut wird, löst sich die Frage einen Moment lang in Luft auf. Sie tanzen in hippen Jacken zu Kavinskys Nightcall im Scheinwerferlicht einer Schreibtischlampe und trinken Bier. Für einige Momente stellen sich Nähe und Gelöstheit ein, alle sind Freunde und vergessen einen Augenblick lang die quälende Undurchdringlichkeit des Seins – bis die Realität sie wieder einholt. Langweile erzeugt Gewalt, die Kinder haben Knarren, und so kommt es zu einem surreal langsamen Showdown, der das Nicht-Wissen in einem Akt sinnloser Gewalt kulminieren lässt.

Am Ende steht der Wunsch nach Wissen, nach Selbstbestimmung und Sinnhaftigkeit. "Ihr seid alle solche Opfer!", beschimpft ein Spieler das Publikum. Ein anderer richtet die Waffe auf den Regisseur – die Puppe revoltiert gegen ihren Herrscher – um das Motiv im nächsten Moment zu entmachten, indem er sie mit breitem Grinsen wieder sinken lässt.

"Nur einen Tag klar sein. Mich für nichts schämen müssen. Und irgendwo hingehören. Das geht doch gar nicht."

Die Klammer schließt sich, der Anfangstext wiederholt sich, Jazzmusik ertönt, alle rauchen, applaudieren und sind sehr fröhlich. Es kann von vorn losgehen – später. Jetzt wird gefeiert.

 

Premiere im Salon des Noch besser Lebens, Leipzig: 7. April 2017

Spiel: Valentin Bringmann, Timo Lexau, Henrik M. Rohde, Lea Föllinger
Kamera / Licht: Tobias Fabek, Gerard Gorczyca
Produktion: Georg Reißig
Regie, Konzept, Text und Foto: Stephan Seidel

 

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