Die aktuelle Kritik

Waidspeicher Erfurt: "König Lear"

von Martin Moll

Regisseur Frank Engel erzählt die große Shakespeare-Tragödie in rasantem Tempo.

 

Zerzauster König ohne Kleider

Den Puppen stehen die Haare zu Berge. Ziemlich zerzaust stolpern einige umher, bei anderen wuchert es in grellem Blau, Gelb oder Rot auf dem adligen Haupt. Und auch König Lear trägt seine Krone nur für kurze Zeit mit Würde, als er seinen drei Töchtern eröffnet, Britannien unter ihnen aufzuteilen – „um allem Streit vorzubeugen“.

Dass dieser noble Plan der Quell für Habgier, Zorn und Zwietracht wird, ist sehr bald klar im Theater Waidspeicher in Erfurt. Doch bis zum Schluss überrascht die Regie mit neuen Einfällen und erzählt eine der größten Tragödien Shakespeares auf erstaunlich unterhaltsame Weise – und in rasantem Tempo. Viel Text wurde gestrichen, Nebenfiguren weggelassen.

Zumindest grob vertraut sollte man dennoch sein mit den Erzählsträngen des Werks, um sich nicht zu verirren im 90-minütigen Dickicht aus Liebe und Vertrauensbrüchen, Intrigen und Zusammenhalt, Heuchelei und Machtmissbrauch. Gastregisseur Frank Alexander Engel setzt auf das Zusammenspiel von Puppen- und Schauspielern, Handpuppen und kleinen Marionetten. Fast nie verlässt einer der Beteiligten die Bühne  – alle agieren in einem offenen Kubus; doch dank raffinierter Ausleuchtung (Andreas Herrlich) verfehlt der Blick nichts von dem, das für den Handlungsfortschritt von Belang ist.

„Auf meinem Wege lauert Wahnsinn“, verkündet auf einen Vorhang projizierter Text zu Beginn des dritten Akts – und längst schon hat der Wahnsinn seine Finger mit ihm Spiel. König Lear – emporgehalten vom vollbärtigen Tomas Mielentz – wütet anfangs verbittert und jähzornig umher. Wenn etwas nicht passt, wird draufgeschlagen und verbannt. Angesichts dieser aggressiven Infatilität („Hunger!“) kommen dem Zuschauer mehr als einmal egozentrisch agierende Staatsoberhäupter in den Sinn, die dieser Tage, gut 400 Jahre nach der Uraufführung des Lear, über die Bühnen dieser Erde trampeln. Doch in Erfurt verkommt der Herrscher bald zum Hampelmann.

Die Heide, wo die Welt in bester Shakespeare-Manier bei Regen, Blitz und Donner nun wirklich aus den Fugen gerät und die Handlungsstränge unheilvoll zusammenfließen, wird als Schaukasten mitten auf die Bühne gesetzt. Struppig und nackt springen die Puppen umher, um schließlich und zu spät zur Erkenntnis zu gelangen. Ach, hätten sie doch nur früher auf den Narr gehört.

Denn dieser, mit viel Bewegung von Kristine Stahl verkörpert, mahnt zu Beginn und ahnt das Unheil schon voraus. Doch kaum gibt er den Ton an, herrscht Trubel wie im Kinderzimmer, es wird geflötet und geschnarrt und zum Flohwalzer umhergetollt.

So wanken die Figuren dem Verderben entgegen bis sie eine Stimme aus dem Off recht lakonisch aus dem Spiel nimmt. Dies gibt ihrem Tod eine undramatische und verstörende Wirkung. Doch mindert dies kaum den Genuss, den Erfurts Puppen-Lear beschert. „Wenn die Jungen steigen, fallen die Alten“, heißt es im Stück. Nun ja, fast alle fallen. Und es ist ein Vergnügen, sie bis zum Ende zu begleiten.

 

Premiere: 7. April 2017

Regie: Frank Alexander Engel
Ausstattung: Kerstin Schmidt und Frank Alexander Engel
Dramaturgie: Susanne Koschig
Es spielen: Heinrich Bennke, Kathrin Blüchert, Tomas Mielentz, Kristine Stahl, Karoline Vogel,  Martin Vogel

 

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