Die aktuelle Kritik

Puppentheater Halle: „1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“

von Tobias Prüwer

Der von Florian Illies im Bestseller beschriebene Weltkriegsvorabend wird amüsante Puppenrevue.

 

Revue-Reigen mit Hitler und Stalin

Am Ende steht ein Tränenmeer. Florian Illies in fünffacher Ausfertigung rinnt das Augenpipi die Wangen herunter. Im Ausgang des Jahres 1913 keimt die Ahnung der menschengemachten Katastrophe namens Weltkrieg. Das Licht erlischt. Zuvor hatten Hitler und Stalin, Rilke, Kafka und Mann, Lasker-Schüler und Mahler ihren Auftritt als Mini-Gliederpuppen und besorgten kollektiven Kurzweil beim Publikum. Und im Hintergrund droht ein leerer Bilderrahmen – erst gen Ende taucht die geklaute „Mona Lisa“ wieder auf und darf als Schlusswort das „Woyzeck“-Märchen sprechen: „und wie’s wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein und da hat sich’s hingesetzt und gerrt und da sitzt es noch und ist ganz allein.“

Als revueartigen Jahresreigen hat das Puppentheater Halle Illies „1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ inszeniert. Regisseur Christoph Werner. Von dem auch die Stückfassung stammt, hat das 300-Seitenwerk auf 80 Minuten komprimiert, in denen seine Protagonisten wie in kleinen Tableaus auftreten. Auf drei runden Podesten ruhen die Figuren, bevor sie von Florian Illies – ihn geben die fünf Spieler gemeinsam – animiert werden. Das ist eine kluge Idee, den Autor so mit hineinzunehmen, weil das schnelle Szenenwechsel ermöglicht. Auch die Darstellung einer Schreibblockade wird so möglich und Franz Ferdinand darf sich auch mal mit ihm streiten. Und gerade, wenn man sich an die Untreteilung in Monate gewöhnt hatte und mitzählte, wurde der Rhythmus wider verändert. Und mehr und mehr interagieren schließlich auch die Puppen, bis schließlich eine sogar von zwei anderen geführt wird.

Wie da die Großkopferten im Miniaturformat vorüberziehen, hat das natürlich etwas höchst Amüsantes. Drollig sehen sie ohnehin aus mit ihren naturalistischen Köpfen – typische Gesichtszüge hat Puppenbauerin Louise Nowitzki schön herausgearbeitet – und Körpern. Und doch haben sie etwas Koboldhaftes, wenn die kleinen Kerle und Damen von den Spielern geführt werden. Darin liegt aber auch eine Gefahr. Handwerklich gibt es an Regie wie Spiel nichts zu bemängeln. Das ist fein Puppenkunst, die hier wieder als überzeugendes Ensembletheater vorgeführt wird. Und dass man nah an der literarischen Vorlage bleibt, ist halt eine Hallenser Handschrift. Aber wenn man, wie Illies es vormacht, die Beschreibung historischer Ereignisse als Personengeschichte begreift, verliert sich der Blick für andere wesentliche Dinge wie etwa Strukturen. Es scheint dann so, als ob alle – der Kaiser inklusive – ahnungslos in die Falle Erster Weltkrieg getappt.

Das ist umso problematischer, als dass kein Funke Nationalismus oder Deutschtümelei aus dieser nationalistischen und deutschtümelnden Zeit auf der Bühne zu erleben ist. Keine Spur von jenen „Ideen von 1914“, denen nur Monate später so viele Intellektuelle anhingen und von deutscher Kultur der Tiefe gegenüber der europäischen flachen Zivilisation fantasierten. Den deutschen Helden stünden englische und Französische Händler gegenüber. Nun ist ein Theaterabend keine Geschichtsstunde und in Halle war man klar um Unterhaltung bemüht. Und die stellte sich unmittelbar ein. Werner ist ein drolliges Kuriositätenkabinett voller Schrulligkeit gelungen, das wunderbar amüsiert. Mehr aber nicht.

 

Premiere: 12. März 2016

Stückfassung und Regie: CHRISTOPH WERNER
Bühne und Kostüme: ANGELA BAUMGART
Puppen: LOUISE NOWITZKI
Musik: SEBASTIAN HERZFELD
Dramaturgie und Regieassistenz: BERNHILD BENSE, LOUISE NOWITZKI, FRANZISKA RATTAY, IVANA SAJEVIC, NICO PARISIUS, CHRISTIAN SENGEWALD

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