Die aktuelle Kritik

Philippe Quesne: "Die Nacht der Maulwürfe"

von Max Florian Kühlem

Das Sommerfestival auf Kampnagel führt seine Besucher ins skurrile Caveland.

 

Höhlengleichnis mit Maulwürfen

Besucher der skurril-phantastischen Theaterstücke des französischen Regisseurs Philippe Quesne müssen sich meist auf Welten einlassen, die nach eigenen Regeln und Gesetzen funktionieren – aber natürlich mit der, die wir kennen, zu tun haben. Seine neuste Welt heißt „Caveland“ und wird bevölkert von menschengroßen Maulwürfen.

Uraufgeführt auf dem Kunstenfestival in Brüssel, war Quesnes „Die Nacht der Maulwürfe“ jetzt im (übrigens komplett großartigen) Programm des internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel in Hamburg zu erleben. Der rund 80-minütige, ausverkaufte Abend startet auf Seiten des Publikums mit vielen Lachern. Die Maulwürfe werden gespielt von Performern im dicken Fellkostüm und lustigen, manchmal zufrieden geschlossenen, manchmal dümmlich aufgerissenen Mäulern. So werden Menschen zu Figuren - und ihre Bewegungen bekommen etwas unbeholfenes, animalisches. Die Maulwürfe hauen mit ihren Klauen ungeschlacht ein Loch in den Guckkasten, quälen sich nacheinander hinein, plumpsen auf den Boden - und alle schleppen oder schieben fluffig-leichte, braune Objekte. Na klar: Das sind Erdbrocken und sie häufen sich zu Maulwurfshügeln.

Während die Maulwürfe verschnaufen, erholen sich auch die Besucher von ihren Lachkrämpfen und schauen sich in Ruhe in der Bühneninstallation um, die wie Regie und Konzeption von Philippe Quesne stammt. Hinter und neben dem Guckkasten, den die Maulwürfe nach und nach zertrümmern erstreckt sich eine Höhlenlandschaft mit Stalagmiten und Stalaktiten, links steht ein Gerüst, das später noch eine Art Rutsche offenbaren wird, rechts ein Rockinstrumentarium.

Nachdem die Maulwürfe die intensivsten Momente der Existenz durchleben – auf ihre eigene, etwas grobe Art beklagen sie einen Toten und feiern eine Geburt – fangen sie tatsächlich an, Kunst zu machen. Einer spielt Theremin, ein anderer malträtiert den Bass, indem er den Kopf des Instruments auf dem Boden schleift. Ziemlich logisch, dass so der Maulwurfsound klingt – und hoch spannend, dass die Performer mit Instrumenten von heute beziehungsweise der elektronischen Avantgarde von gestern ein Gefühl dafür vermitteln, wie vielleicht einst die Geburt der Musik aus dem Experimentieren mit der Anordnung von Tonhöhen und Tondauer geklungen haben könnte.

Als der Guckkasten noch steht, versucht sich dort ein Maulwurf an einer anderen Kunstform: Mit einer Spritzpistole sprüht er eine bräunlich-schlammige Flüssigkeit an die Wand, ahmt in einfachen malerischen Gesten das frisch geborene Baby samt Nabelschnur nach, zeichnet den Schattenriss eines vergnügten Kollegen. Später führt die lustige Gesellschaft mit länglichen Objekten, die an große Würmer oder Gedärme erinnern, ihre Version von Mysterienspielen auf. Das musikalische Wirken von vier Maulwürfen wird immer kunstfertiger, changiert von Rock- zu instrumentaler House-Musik. Die anderen tanzen, rutschen, vergnügen sich unter einem Transparent: „Welcome to Caveland“ – und der Vorhang fällt.

Die Zuschauer sind begeistert von der Flut der großformatigen Theater-Bilder und -Effekte und erst im Nachgang kommt die Frage auf: Was haben wir da eigentlich gesehen? Ein Gleichnis auf die Entstehung einer Kultur vom unhinterfragten In-Der-Welt-Sein über einfache Arbeit zu immer komplexerer Welt-Aneignung und -Veränderung? Aber warum endet die Entwicklung ohne großen Aha- oder zusammenführenden Schluss-Effekt in einem Freizeitpark-Setting? Kann man daraus vielleicht eine Kritik herauslesen an einer hochentwickelten menschlichen Kultur, die sich mehrheitlich am liebsten mit lärmender Unterhaltungskultur zudröhnt? Andererseits ist es durchaus beglückend, dem beizuwohnen, was die Maulwürfe da treiben. Vielleicht ist das also der Sinn hinter Philippe Quesnes modernem Höhlengleichnis: Wenn wir die Welt schon nicht verstehend durchdringen können, warum dann nicht Spaß in ihr haben auf allen Ebenen – Herz, Bauch und Kopf.

 

Premiere: 6. Mai 2016 (Kunstenfestival Brüssel)
Aufführungen auf Kampnagel, Hamburg: 17.-19. August 2017

Konzept, Regie und Bühne: Philippe Quesne
Mit: Yvan Clédat, Jean-Charles Dumay, Léo Gobin, Erwan Ha Kyoon Larcher, Sébastien Jacobs, Thomas Suire, Gaëtan Vourc’h

Kostüme: Corine Petitpierre
Kostümassistenz: Anne Tesson
Dramaturgie: Léo Gobin, Lancelot Hamelin, Ismael Jude, Smaranda Olcese
Künstlerische und Technische Mitarbeit: Marc Chevillon, Yvan Clédat, Elodie Dauguet, Joachim Fosset, Abigail Fowler, Samuel Gutman, Pauline Jakobiak, Thomas Laigle
Ausstattungsassistenz: Chloé Chabaud, Juliette Seigneur, Amélie Wellan
Kostümproduktion: Karelle Durand, Lydie Lalaux
Foto: Martin Argyroglo

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